Nervenzellen – alle Typen ticken anders
Unterschiedliche Neuronenarten helfen dem Bewusstsein bei der
Arbeit: denken, wahrnehmen, Information speichern, Bewegung
kontrollieren, Gefühle ausdrücken, kommunizieren. Alle
Nervenzelltypen verbindet ein einfaches Prinzip: Über die extrem
schmale synaptische Spalte hinweg tauschen sie mit chemischen
Botenstoffen Nachrichten aus.
|
Chemische Boten sorgen für den
Informationsfluss
„Die Neurologen verfügten über bildgebende Systeme, wie die
Magnet-Resonanz-Tomographie und die
Positronen-Emissions-Tomographie, die die Struktur und Funktion
des lebenden menschlichen Gehirns darstellen. Gleichzeitig
können wir rezeptorautoradiographische Untersuchungen
durchführen, die die molekulare Dimension sichtbar machen, und
wir können das menschliche Gehirn in etwa 8.000 hauchdünne
Scheibchen zerlegen, um einzelne Nervenzellen zu studieren“,
beginnt Karl Zilles.
Karl Zilles ist spezialisiert auf Neurotransmitterrezeptoren,
jene Substanzen an denen die chemischen Botenstoffe –
Transmitter – wirken und ohne die die Kommunikation in unserem
Gehirn zum Erliegen käme. Diese Rezeptoren sind wichtig für die
Informationsübertragung bei allen Hirnfunktionen, aber auch bei
Demenz, Parkinson und Alzheimer. Denn inzwischen weiß man, dass
solche Krankheiten von einer schweren Störung im System der
Botenstoffe begleitet werden. Das Zauberwort in der
Hirnforschung heißt „Brainmapping“.
Mit der Lehre der „Lokalisationisten“ begann im letzten
Jahrhundert die moderne Geschichte der Hirnforschung. Der
Franzose Pierre Broca behandelte zu jener Zeit einen Patienten,
der nur eine Silbe aussprechen konnten – „tan“. Als der Mann
starb, diagnostizierte Broca in dessen linker Hirnrinde eine
genau lokalisierbare Verletzung.
Ungefähr zur selben Zeit entdeckte der deutsche Psychiater Carl
Wernicke die „Seelentaubheit“, die Unfähigkeit, den Sinn eines
Wortes zu erkennen, obwohl es der Patient nachsprechen kann. Für
diesen Ausfall der Spracherkennung machte der Arzt eine
Schädigung an einer anderen Stelle der gleichen, linken
Hemisphäre verantwortlich.
In der Folge jener ersten neurologischen Euphorie durchsuchten
Wissenschaftler den Kopf nach weiteren Regionen, und Korbinian
Brodmann, ein Schüler Vogts, lokalisierte das visuelle
Cortexareal, auch Sehrinde genannt. Ebenso fand er das
motorische Rindenareal, das unsere Bewegungen steuert. Das
sensorische Rindenareal empfängt Signale aus dem Großorgan Haut,
und hinter der Stirn vermutete man schon damals die Moral.
In den fünfziger Jahren forcierte der Amerikaner Karl Lashley
die Suche durch eine interessante Theorie: Erinnerungen sollten
demnach in sogenannten Engrammen gespeichert sein. Wenn wir eine
Symphonie hören, hinterlässt die Melodie eine solche
Eingravierung in unserer Gehirnmasse.
|
In welchem Gehirnfach steckt welche
Erinnerung?
Trotzdem beendete diese Theorie die Vorstellung, irgendwo im
Kopf eines Menschen stehe ein Aktenschrank, in dessen Schubladen
sein Leben untergebracht ist – in meinem zum Beispiel im linken
unteren Fach die rote Lokomotive einer Modelleisenbahn, etwas
darüber mein erster Kuss und meine verkorkste Fahrschulprüfung,
ganz oben schließlich „gestern“. Wo wäre da der Fremde vom
Wochenmarkt geblieben? In einem Fach, in dem ich ihn nie suchen
würde?
Der Neurophysiologe James McConnel zum Beispiel suchte es in
einer Kombination von Aminosäuren, die er in frankensteinesken
Experimenten nachweisen wollte: Er brachte Plattwürmern bei,
Licht zu meiden. Taten sie es, zerkleinerte McConnel die Würmer
in einem Mixer und verfütterte sie an Artgenossen, die dann
angeblich auch das Licht mieden. McConnels These: Es gibt ein
Molekül für die Erinnerung. Ein anderes Experiment löste eine
zweite neurologische Euphorie aus: Der Neurologe George Ungar
hatte in Rattenhirnen eine Substanz names „Scotophobin“
entdeckt. Übertrug er diese von Ratten, die Angst vor Dunkelheit
hatten, auf andere Nager, so reagierten auch diese ängstlich,
sobald das Licht ausging. Wenn, so die verständliche Frage, ein
so hochkomplexer Vorgang wie Angst injiziert werden kann, warum
dann nicht auch der Inhalt eines Konversationslexikons?
Ungefähr zur selben Zeit glaubte man, Erinnerungen abrufen zu
können wie einen archivierten Film. Bei vollem Bewusstsein
erlebten die Patienten, wie der Arzt an den (übrigens
schmerzunempfindlichen) Gehirnen manipulierte; und sie
„erinnerten“ sich plötzlich ganz klar an frühere Momente aus
ihrem Leben.
|
Nüchterner Blick in den Schädel
Bis sie vor ihnen liegt, jene grau-feuchte Masse, knapp drei
Pfund schwer. Die Oberfläche des Gehirns bildet der nur zwei
Millimeter dicke, stark eingefurchte Cortex. Könnte man ihn
auslegen wie den Teig für Weihnachtsplätzchen, so würde jener
wichtigste Bestandteil der nur scheinbar symmetrischen
Hirnhälften mit 1,5 Quadratmetern locker einen Küchentisch
bedecken. Beginnen wir nun, unsere Kekse auszustechen: Der
evolutionsgeschichtlich betrachtet jüngere Teil der
Großhirnrinde heißt Neocortex und unterteilt sich in
Stirnlappen, Scheitellappen, Schläfenlappen und
Hinterhauptlappen. Der ältere Teil gehört – wie der Hippocampus
– zum limbischen System, das unsere Emotionen verwaltet und für
die Lern- und Gedächtnisfunktionen wichtig ist. Der Balken
verbindet beide Hirnhälften. Die ganze Struktur wird Endhirn
genannt und sitzt auf dem Kleinhirn, das unsere Bewegungen
koordiniert. Und auf dem verlängerten Rückenmark, das auch die
vegetativen, also unbewusst gesteuerten Funktionen
aufrechterhält, Atmung, Durchblutung und Verdauung.
Seine Hardware, Grundlage aller kognitiven Leistungen, besteht
aus etwa 100 Milliarden Nervenzellen – so viele, wie es Sterne
in der Milchstraße gibt. Allein in einem Kubikmillimeter
Großhirnrinde befinden sich etwa 40.000 dieser Neuronen, und
jedes einzelne steht mit 4.000 bis 10.000 anderen über
sogenannte Synapsen in direkter Verbindung. Bei 100 Billionen
Synapsen hat das Gedankennetz eine Länge von 100.000 Kilometern.
Darüber, wie uns dieses scheinbare Chaos, das in Wirklichkeit
hochorganisiert ist, mit Erinnerungen versorgt, mit Bewusstsein
und Gefühlen, hat sich heute eine Theorie durchgesetzt: Das
Gedächtnis funktioniert nach dem einfachen Prinzip der
Aufgabenteilung, und die heißt neuro-deutsch „multimodale
Repräsentation“.
Erinnerungen, soviel scheint klar zu sein, sind nicht abspielbar
wie eine Filmsequenz: Ich kann mein Leben nicht Schnelldurchlauf
an mir vorbeiflitzen lassen, zurückspulen bis zu jenem
Kindergeburtstag, an dem ich angeblich den Fremden vom Markt
kennengelernt habe.
Mein Kopf ist eher zu vergleichen mit einer Konzerthalle. Mein
Gedächtnis ist das Symphonieorchester. Und wenn ich das schwache
Gefühl habe, mich an den Typ, der vor mir auf dem Wochenmarkt
steht, zu erinnern, dann erklingt ein erster zarter Geigenton.
Ein anderer Streicher nimmt das Thema auf, und langsam fallen
alle Violinen ein. In meinem Kopf-Orchester sind sie zuständig
für optische Eindrücke und für Gesichter-Erkennung. Sie
erklingen, sobald ein bekanntes Bild auftaucht – zum Beispiel
eine Nase in der Fußgängerzone.
|
Überall geht ein neues Licht auf
Im Erinnerungs-Orchester nimmt meist der Hippocampus diese
Funktion ein. Aber sie wissen, dass eine Verletzung des
Hippocampus das Speichern neuer Erinnerungen unmöglich macht.
Mit diesem Modell lässt sich erklären, was Neurologen wie der
Bremer Hans Flohr meinen, wenn sie sagen, dass das Gedächtnis
„auf dem Cortex distribuiert“ vorkommt – weit verteilt auf die
vielfältigen Windungen der Großhirnrinde: Danach ist jede
Nervenzelle ein Instrument.
|
Beim Sehen kommt das ganze Hirn in Schwung
In der Sehrinde kommen alle optischen Eindrücke eines Menschen
an – und werden hier verarbeitet. Dabei unterscheiden sich die
Aufgaben der Nervenzellen verschiedener Regionen des Gehirns.
Die einen erkennen die Bewegungsrichtung eines Objekts, andere
dessen form. Die nächsten steuern die Farbe bei. Schätzungsweise
100 solcher Areale kommunizieren wie Kleinstorgane in der
Sehrinde miteinander, um Abbilder der Außenwelt in den Kopf zu
projizieren.
Die Gedächtnisleistung des Gesichtererkennens läuft mit
atemraubendem Tempo; kein Computer könnte mithalten: Eine
Arbeitseinheit filtert die Umwelt nach bekannten Merkmalen,
packt das Fremde ins Töpfchen und das Vertraute ins Köpfchen.
Eine andere Arbeitseinheit sorgt für Objektkonstanz, so dass wir
eine weit entfernte Person nicht für einen Zwerg halten.
|
Wie man an der Nase den ganzen Menschen
erkennt
Es verhält sich vielmehr wie ein elektro-chemisches Aggregat,
ein nimmersatter Input-Output-Generator, der sich fortwährend
über die Sinne vollsaugt mit „Reizen“, die in Form von kleinen
Stromstößen weitergeleitet werden.Auch andere Nervenzellen
proben den Ernstfall, und an den Neuronen bilden sich die
typischen Fortsätze hinaus: Dendriten, die Signale von anderen
Neuronen aufnehmen, Axone, die Signale weiterleiten. Obwohl die
Gehirnmasse des Säuglings nur ein Viertel der eines Erwachsenen
beträgt, verfügt erstaunlicherweise schon das Baby über
sämtliche Neuronen, die der Erwachsene je haben wird. Doch erst
mit der Pubertät endet der Entwicklungsprozess des Gehirns und
der des Gedächtnisses. Dann sind alle Verknüpfungen „etabliert“
und die Neuronen auf ihre volle Größe von einem
Zehntelmillimeter herangreift.
Dabei pendelt sie permanent zwischen zwei Zuständen: Im
Ruheptential mit einer Spannung von minus 70 Millivolt ist sie
nicht aktiv und kann keinen Reiz übertragen. Im Aktionspotential
von plus 30 Millivolt gibt die Zelle über das Axon eine Erregung
an die nachgeschaltete Zelle weiter – die Zelle „feuert“. Wird
das Signal über Zwischenstationen an verschiedene Neuronen
weitergegeben, entsteht eine Art Datennetz, das je nach
Verzweigungsmuster „Stuhl“, „Oma“ oder „Sieben“ bedeutet.
Präsentiert sich derselbe Reiz öfter, kann es zur sogenannten
Long-Term-Potentation (LTP) kommen, zur langfristigen Aufladung.
Die Zellen erkennen den ankommenden Reiz wieder, sie „erinnern“
sich. Ein solcher Reiz genießt Vorfahrtsrecht gegenüber völlig
neuen, noch fremden.
|
Bei Gedankenströmen kommt es auf den Takt
an
Eine Erinnerung ist demnach die weitverzweigte Aktivierung
verschiedener lokaler Strukturen und deren Verknüpfung zu einem
Netzwerk. Dabei stellt der synaptische Spalt zwischen zwei
Zellen, jener 20millionstel Millimeter schmale Graben, für den
elektrischen Impuls, den das Neuron aussendet, ein großes
Hindernis dar: Der elektrische Impuls muss in einen chemischen
verwandelt werden, durchquert so den Raum zwischen zwei Zellen
und wird auf der anderen Seite zurückgewandelt in einen
elektrischen.
Diesen Botengang übernehmen sogenannte Neurotransmitter. In der
Symphonie der Erinnerungen sorgen sie für die Kommunikation
zwischen den einzelnen Instrumenten. Eine andere Funktion, die
das Team um Wolf Singer vom Frankfurter Max-Planck-Institut für
Hirnforschung entdeckt hat, ist unabdingbar, um die aus weiten
Teilen des Gehirns heranzuholenden Nachrichten zum selben
Zeitpunkt verfügbar zu machen. Danach nutzt das Gehirn einen
fest vorgegebenen Takt, um seine Informationen zu
synchronisieren.
|
Was immer wiederkehrt, prägt sich leichter
ein
Wie ein Gedächtnis manche Dinge leicht abrufbar behält, andere
aber nicht, lässt sich am psychologischen Modell des Briten Alan
Baddeley erklären. In seiner Theorie existiert neben dem
Langzeitgedächtnis nur noch das Arbeitsgedächtnis, auch
Arbeitsspeicher genannt. Der Arbeitsspeicher versorgt uns auch
mit Strukturen, die mal kurz eine Telefonnummer speichern
können, die sie uns aber schon kurz nach dem Wählen wieder
vergessen lassen. Das Gedächtnis absolviert somit eine
komplizierte Gratwanderung: Einerseits muss unser Bewusstsein
beweglich bleiben, damit wir uns den Herausforderungen einer
sich ständig ändernden Welt stellen können. Es muss nichtige
Dinge möglichst rasch ausblenden, damit das Gedächtnis nicht mit
Daten überlastet wird. Andererseits darf es nicht zu viel
vergessen, um eine gewisse Stabilität im Leben zu gewährleisten
– damit wir uns jeden Tag als dieselbe Person fühlen.
|
|